Es ist 6:15 Uhr. Martin B. zieht die leuchtend blaue Kapuze seiner Outdoor-Jacke über den Kopf, da es leicht zu regnen begonnen hat. Er steht wie jeden Morgen um diese Zeit auf dem Bahnhof in Murrhardt und wartet auf den Regionalexpress aus Schwäbisch Hall, der ihn nach Stuttgart bringen soll. Doch der kommt nicht. Es ist der 10. Juni 2016. Ein für diesen Sommer typischer Tag: kein Zug, dafür umso mehr Regen.
Dem Landtagsabgeordneten Gernot Gruber hat Martin B. seine Erfahrungen mit der Bahn geschildert. Der 10. Juni hat sich ihm nicht eingebrannt. „Das Datum brauche ich nicht anzugeben, da es mir sehr oft, eigentlich täglich passiert“, sagt er frustriert. Ihm geht es so wie den übrigen 41 Bahnfahrerinnen und Bahnfahrern, die Gruber auf dessen Aufruf hin ihre Verspätungen, ausgefallenen Züge und verpassten Anschlüsse gemeldet haben. „So ist für den Juni eine Liste von 209 Zugverbindungen zustande gekommen, deren Züge eine durchschnittliche Verspätung von 8 Minuten und 42 Sekunden hatten“, sagt Gruber.
„Außerdem sind mindestens 94 Züge ausgefallen – in einem Monat!“, ergänzt der Backnanger Sozialdemokrat, „Das sind täglich mehr als drei Züge!“. Grubers Auswertung des Monats Juni steht im krassen Gegensatz zu dem Bild, das der Bevollmächtigte der Deutschen Bahn, Sven Hantel, von den Verhältnissen auf der Murr- und Remsbahn gezeichnet hatte. Aus dessen Sicht hat sich der Zugverkehr dort entscheidend verbessert. „Wenn die Steigerung von katastrophal-grottenschlecht hin zu saumäßig schlecht erfolgt ist, dann mag das für die Bahn eine Verbesserung darstellen, für die Kunden ist es weiterhin inakzeptabel“, kontert ein Pendler aus dem Remstal.
„Wenn man innerhalb von vier Wochen bei neun Fahrten von Backnang nach Stuttgart zweimal unterwegs den Zug wechseln muss, ist dies für einen Fahrgast unzumutbar“, pflichtet eine Leidensgefährtin aus der großen Kreisstadt Backnang bei. „Für Viele hat die Verlässlichkeit der Bahn in den letzten Jahren stark gelitten“, resümiert Gruber. Der Abgeordnete bemängelt, dass er trotz der erhöhten Investitionen innerhalb eines Monats gleich 41 Infrastrukturprobleme zählen musste; darunter acht Signalstörungen, sechs Zugschäden, fünf Oberleitungsdefekte, jeweils vier Stellwerk- und Weichenprobleme sowie zwei unpassierbare Gleise. „Hinzu kam noch, dass an vier Tagen die Züge nicht fahren konnten, weil es zu von der Bahn nicht zu verantwortenden Personenunfällen kam“, sagt Gruber.
Der SPD-Politiker, selbst Pendler, kann seine Mitfahrer gut verstehen: „Wer wegen einer Verspätung von über acht Minuten seinen Anschluss verpasst, kommt oft mindestens eine halbe Stunde später an und eben nicht nur acht Minuten!“ Die meisten freilich ertragen die Strapazen und bleiben der Bahn widerstrebend treu. Einige jedoch steigen um. „Ich habe für mich persönlich die Konsequenzen aus der Situation gezogen; seit letzten Sommer fahre ich mit dem Auto!“, heißt es in einem der Mails, die Gruber erreicht haben. „Eine Verstärkung dieses Trends wäre umweltpolitisch fatal“, sagt der Backnanger Abgeordnete, der darauf setzt, dass die Verantwortlichen bei der Bahn die Signale ihrer Kunden nicht überhören.
Er hat seine Auswertung von der Murr- und Remsbahn dem DB-Bevollmächtigten geschickt. Hantel hatte Gruber angeboten, den Ursachen von Verspätungen und Ausfällen nachzugehen, falls der Abgeordnete ihm mitteile, wann und wo genau Züge sich verspäteten oder ausfielen. „Jetzt hat Herr Hantel ungeschönte Informationen aus der ersten Hand der Bahnfahrer erhalten“, sagt Gruber in der Erwartung, dass die Bahn die Weichen richtig stellt, damit diese endlich wieder verlässlicher und pünktlicher wird. Es sei allerhöchste Zeit, dass die Bahn verloren gegangenes Vertrauen auf der Murr- und der Remsbahn wiederherstellt. Der Abgeordnete will den Verantwortlichen bei der Bahn so lange den Spiegel vorhalten, bis sich die Bahnfahrer wieder auf Züge und S-Bahnen im Nah- und Regionalverkehr verlassen können.